„Werde, der du bist.“ — Seit über 2500 Jahren geistert diese Aufforderung zur Selbsterkenntnis durch die abendländische Philosophie. Bereits der Apollotempel in Delphi trug die Inschrift „Γνῶθι σεαυτόν“ (Erkenne dich selbst) — ein Spruch, der von Chilon von Sparta, einem der Sieben Weisen, stammen soll.
„Werde, der du bist“, das ist die Aufforderung an jeden von uns, mit sich selbst ins Reine zu kommen und den eigenen Weg durchs Leben zu finden. Es ist im wahrsten Sinne eine grundlegende Aufgabe, sich dieser Frage zu stellen.
Wer bin ich? Was will ich? Bin ich da, wo ich mich gerade befinde, glücklich und zufrieden? Wie bin ich hierhergekommen? Befinde ich mich noch auf meinem Weg? Und falls nicht, wann und wieso bin ich vom Weg abgekommen?
Früher oder später stellt sich jeder von uns diese Fragen. Meistens passiert es irgendwann in der Pubertät, dass man sich fragt, wie das eigene Leben idealerweise aussehen soll. Welche Träume habe ich? Wohin will ich? Welchen Beruf soll ich ergreifen? Was interessiert mich wirklich? Ist das Leben, das meine Eltern mir vorleben, für mich ein echtes Vorbild?
In der Pubertät stehen einer realistischen Einschätzung meist die eigenen Hormone im Weg. Der junge Mensch will sich vor allem abgrenzen, emanzipieren, alles anders machen. Doch nur die Wenigsten von uns hatten wohl in dieser Lebensphase eine klare Vorstellung davon, was sie einmal aus ihrem Leben machen wollten.
Doch irgendwann erwischt es uns alle. Wir werden durch einen unerwarteten Todesfall in der Familie, eine ernsthafte Erkrankung, einen Unfall oder ein anderes einschneidendes Erlebnis an einen Punkt gebracht, der uns mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Ja, wir sind alle sterblich, doch die meiste Zeit gelingt es uns ganz gut, diese unumstößliche Tatsache gekonnt zu verdrängen. Doch es ändert nichts an der traurigen Tatsache: An einem ungewissen zukünftigen Tag werden wir sterben.
Wie gehe ich mit der eigenen Endlichkeit um? Die alten Mönche haben zum Tod einen ganz anderen Bezug. Unter ihnen gibt es die hohe Kunst des „Sterben-Lernens“, der täglichen Einübung eines bewussten Lebens im Angesicht des Todes. Hier finden wir ein Wissen, das über viele Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Sterben lernen, das klingt ziemlich düster, ist aber im Grunde das genaue Gegenteil: Erst wer sich der Endlichkeit des eigenen Lebens voll bewusst wird, lernt diese kurze Zeitspanne, die uns zwischen Geburt und Tod geschenkt wurde, wirklich zu schätzen! Sterben lernen, bedeutet nicht, trübsinnig und hoffnungslos dem eigenen Ende entgegen zu schauen, sondern eben gerade das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Wer an solch einen einschneidenden Punkt in seinem Leben kommt, dem gelingt es vielleicht innezuhalten und das eigene Leben bis zu diesem Zeitpunkt zu reflektieren. Der Protagonist dieses Romans, Nicolas Weynbach, kommt an genau solch einen Punkt, als sein geliebter Onkel Valentin stirbt. Die Nachricht von dessen Tod reißt ihn mitten aus seinem hektischen Berufsalltag als Chef eines Pharma-Unternehmens.
Weynach, der Name ist vielsagend, führt aber in eine falsche Richtung, denn der Held dieser Geschichte ist alles Andere als weinerlich. Mit Hilfe der Notizbücher und Geschichten seines verstorbenen Onkels, der ein erfolgreicher Schriftsteller war, gelingt es ihm, nach und nach auf die eigene Spur zu kommen und seinen bisherigen Lebensweg kritisch zu hinterfragen.
Die Geschichten dieses Romans lesen sich für den geneigten Leser wie Einladungen zum Nachdenken und Nachsinnen über das eigene Leben. Genau diese Fähigkeit des Impulse-Gebens zeichnet doch gute Literatur aus: Sie verführt uns ganz heimlich dazu, über das eigene Leben und seinen Sinn nachzudenken.
Der Autor dieses schönen „Buches eines Sommers“ ist der Niederländer Bas Kast. Berühmt geworden ist er mit seinem „Ernährungskompass“, der lange Zeit ganz weit oben auf den Bestseller-Listen stand. Kast hat Neurowissenschaften studiert und wollte eigentlich mal „etwas Vernünftiges“ werden. Doch er folgte seiner inneren Stimme und begann mit dem Schreiben, zunächst als Reporter, bis er eben mit dem „Ernährungskompass“ genau den Nerv der Zeit traf und einen echten Weltbestseller landete.
Aus dieser Perspektive findet sich also in diesem „Buch eines Sommers“ auch ein wenig die eigene Lebensgeschichte des Autors wieder. Es ist ein Buch für Leser aller Altersgruppen, ein Buch für alle, die nicht aufhören (oder auch wieder damit anfangen) wollen, sich selbst und das eigene Tun zu hinterfragen. Natürlich ist es auch und ganz besonders ein Buch für Heranwachsende, die sich diese grundlegenden Fragen — je früher, desto besser — stellen sollten.
Welche Zeit könnte besser geeignet sein für eine solche Reise in die eigenen Innenwelten als die jetzige?! Die Corona-Pandemie mit ihren vielen Ungewissheiten, mit dem Verlust der Planbarkeit des eigenen lebens, mit verhängten Teil-Lockdowns, mit Home Office und Teilzeit-Arbeit hat zu einer flächendeckenden Verlangsamung der irrsinnigen Geschwindigkeit unseres früheren Lebens geführt. Diese Entschleunigung eröffnet den Blick auf das Ganze. Neben den vielen alltäglichen Fragen der Versorgung und der Finanzierung des eigenen Lebens tauchen hier bei vielen von uns auch plötzlich wieder die ganz grundsätzlichen Fragen auf:
Wer bin ich? Was will ich? Bin ich da, wo ich mich gerade befinde, glücklich und zufrieden? Wie bin ich hierhergekommen? Befinde ich mich noch auf meinem Weg? Und falls nicht, wann und wieso bin ich vom Weg abgekommen?
„Das Buch eines Sommers“ von Bas Kast ist für eine solche Zeit die ideale Lektüre, um diesen individuellen Fragenkatalog zu stimulieren und den Leser ganz sanft auf den Weg zu sich selbst zu bringen.
Autor: Bas Kast
Titel: „Das Buch eines Sommers — Werde der du bist“
Originaltitel: Das Buch eines Sommers
Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
ISBN-10: 3257071507
ISBN-13: 978-3257071504