Ulrich Tukur ist Schauspieler Musiker Schriftsteller und wahrscheinlich noch einiges mehr. Bislang habe ich noch keinen Roman von Ulrich Tukur gelesen, „Der Ursprung der Welt“ ist der erste, aber bestimmt nicht der letzte.
Dieser knapp 300 Seiten starke Roman bietet eine höchst verstörende Lektüre. Zunächst zum Titel: „Der Ursprung der Welt“, das titelgebende Gemälde von Courbet, zeigt einen weiblichen Torso; der Kopf des Gemäldes ist abgeschnitten, vielleicht um die Anonymität des Modells zu gewährleisten, vielleicht aus einem anderen Grund, man weiß es nicht, und es zeigt einen nackten weiblichen Torso: Das Zentrum des Gemälde wird von der Vulva mit Haaren und allen Details dominiert. In seiner Offenheit und Detailtreue war dieses Gemälde seinerzeit ein Skandal, und selbst für den heutigen Betrachter stellt es — allerdings aus anderen Gründen, die mit den Limitationen unserer Zeit zu tun haben — eine Herausforderung dar.
Der Roman „Der Ursprung der Welt“, in dem dieses Gemälde eine zentrale Bedeutung spielt, erzählt die Geschichte von Paul Goullet, eines jungen Mannes aus gutem Hause, der dank einer großzügigen Apanage seines Onkels von der Last eines Brotberufes entbunden und vielleicht gerade deshalb auf der Suche nach einem sinnvollen Leben und nach sich selbst ist.
Von der Handlung soll an dieser Stelle nicht allzu viel verraten werden. Nur so viel: Die Geschichte spielt in Deutschland und Frankreich einerseits in der nahen Zukunft im Jahre 2033 und andererseits in Frankreich 1943. Wenn es um die stilistische Einordnung dieses Romans gehen soll, so handelt es sich um eine komplexe Parallelmontage zweier Handlungsstränge, die sich im Laufe der Geschichte immer enger miteinander verwoben sind.
Der Klappentext verrät, dass Paul Goullet auf einem Pariser Flohmarkt ein etwa hundert Jahre altes Fotoalbum mit den Initialen PG — seinen Initialen! — entdeckt, in dem er unter anderem ein altes Foto findet, auf dem er selbst zu sehen ist. Das ist natürlich vollkommen unsinnig, aber die Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Foto ist verblüffend.
Jenes Foto eines adrett gekleidet Mannes mit einer Kreissäge auf dem Kopf ist auf dem Titel dieses schön gemachten Buches, das im S. Fischer Verlag erschienen ist, abgebildet.
Der Protagonist sucht nach weiteren Hinweisen und geht auf die Suche nach seinen eigenen Wurzeln, wobei das zu wenig gesagt ist. Es ist eine Suche nach den eigenen Erinnerungen, aber auch die Suche nach der Wahrheit der eigenen Familiengeschichte. Wir haben es hier also mit dem klassischen Genre einer „quest story“ zu tun.
Mehr soll hier nicht verraten werden, außer dass es sich um eine bedrückende Atmosphäre handelt, in die wir als Leser eintauchen und die das ganze Buch durchzieht: Nicht selten liest sich Tukurs Roman wie eine Mischung aus Kafka und Edgar Allan Poe. Besonders die Darstellung der nahen Zukunft im Jahr 2033 mit chaotischen Zuständen in Deutschland, Frankreich und ganz West-Europa, wobei Spanien und Portugal ähnlich wie zur Zeit des Nationalsozialismus zu sicheren Häfen werden, ist ebenso erstaunlich wie bedrückend.
Der von Tukur beschriebene Perspektivwechsel eines südeuropäischen Raumes in Sicherheit und Frieden, während zeitgleich der osteuropäische Lebensraum durch einen neuen Krieg ins Chaos stürzt und zu massenhaften Fluchtbewegungen führt, ist luzide und brillant beschrieben.
Frankreich hat sich inzwischen zu einem totalitären System allgegenwärtiger digitaler Kontrolle entwickelt, das durch wiederholte terroristische Anschläge aus dem Gleichgewicht gebracht werden soll; das System antwortet mit einer noch härteren Gangart, bis der Konflikt in einem Anschlag auf den französischen Präsidenten gipfelt.
Traum- und Albtraum-Sequenzen wechseln sich in Tukurs Roman ab. Das Buch ist nicht in einzelne Kapitel unterteilt, sondern strukturiert den Text nur durch Absätze in einzelne Passagen. Hierdurch wird die traumartige Komposition der parallel verlaufenden Sequenzen noch zusätzlich unterstrichen.
„Der Ursprung der Welt“ ist ein packender Roman, ein Buch, das man schnell und in einem Rutsch lesen sollte – und lesen wird. Es ist jedoch keine leichte, fröhliche Lektüre, denn gerade die Rückblenden in das von den Deutschen besetzte Frankreich von 1943 mit französischen Fluchthelfern auf der einen und den deutschen Besatzern und der Gestapo auf der anderen Seite sind nichts für Leser mit schwachen Nerven.
So liegt die bedrohliche und beklemmende Grundstimmung wie eine stahlblaue Wolkendecke über der ganzen Geschichte. Sowohl die Gegenwart (im Jahr 2033) als auch die Vergangenheit (1943) sind durchzogen von jener erdrückenden und indifferenten Gefahr, die von außen kommt und der sich niemand entziehen kann. Hinzu kommt die Bedrohung von innen, welche den Protagonisten bis zum Schluss in seinen Träumen quält, ihn an die Grenzen seines Verstands und darüber hinaus führt.
Ulrich Tukur liefert mit „Der Ursprung der Welt“ einen packenden und in seiner Konsistenz bemerkenswerten Roman, der den Leser gleich in zwei Richtungen auf eine Zeitreise schickt und ihn mit der Stringenz und Wucht seiner schnörkellosen Sprache zum Nachdenken anregt über die Welt, in der wir leben, und vor allem darüber, in welcher Welt wir in Zukunft leben wollen.
Autor: Ulrich Tukur
Titel: „Der Ursprung der Welt“
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: S. FISCHER
ISBN-10: 3103972733
ISBN-13: 978-3103972733